Predigt 6 - "Auf den Gekreuzigten schauen" (4. Mose 21, 4-9)

Thommy Weiss / pixelio.de
Thommy Weiss / pixelio.de

Liebe Schwestern und Brüder,

ich möchte Sie zunächst einladen zu einer kleinen Geschichte von Alice McLerran mit dem Titel:

 

Der Berg und das Vögelchen vor langer Zeit gab es einen Berg, der war nur ein nackter Fels. Ganz allein stand er mitten in einer flachen Einöde. Keine Pflanze wuchs auf seinen steinigen Hängen; kein Tier, weder Vogel noch Insekt, konnte auf ihm leben. Die Sonne wärmte den Berg, und der Wind kühlte ihn; aber die einzige Berührung, die er kann­te, war die Berührung durch Regen oder Schnee. Mehr empfand er nicht. Tag und Nacht sah der Berg in den Himmel und beobachtete die ziehenden Wolken. Er kannte den Weg der Sonne, die am Tage über den Himmel lief, und den Weg des Mondes, der ihn nachts überquerte. In klaren Nächten verfolgte er die langsame Bewegung der weit entfernten Sterne. Mehr war da nicht zu sehen. Eines Tages aber erschien ein Vögelchen. Es flog im Kreis um den Berg herum, landete auf einem Felsvorsprung, um sich auszuruhen, und putzte seine Federn. Der Berg fühlte den sanften Griff der winzigen Krallen; er spürte die Zartheit des gefiederten Körpers, als das Vögelchen Schutz suchte an seiner Seite. Der Berg war über­rascht; noch nie war etwas so Zauberhaftes aus dem Himmel zu ihm herabgekommen. ,,Wer bist du?“ fragte der Berg. ,,Wie heißt du?“ „Ich bin ein Vogel“, erwiderte das Vögelchen, „mein Name ist Joy, das bedeutet Freude, und ich komme aus fernen Ländern, wo alles grün ist. Jedes Frühjahr fliege ich hoch in die Luft und suche nach dem besten Platz, um dort mein Nest zu bauen und meine Kinder aufzuziehen. Sowie ich mich hier ausgeruht habe, muss ich weitersuchen. ,,Du bist anders als alles, was ich kenne“, sagte der Berg. Musst du wieder fort? Könntest du nicht bei mir bleiben?“ Joy, das Vogelweibchen, schüttelte den Kopf. „Wir Vögel sind lebende Wesen“, erklärte sie. Wir brauchen Futter und Wasser. Hier wächst nichts, was ich fressen kann; hier gibt es keine Wasserläufe, aus denen ich trinken kann.“ ,,Wenn du schon nicht hier bleiben kannst, willst du nicht wenigstens eines Tages wiederkommen?“ fragte der Berg. Joy überlegte eine Weile. ,,Ich fliege lange Strecken“, sagte sie, „und ich habe mich auf vielen Bergen ausgeruht. Noch nie hat ein Berg sich darum gekümmert, ob ich komme oder gehe. Nur du. Darum möchte ich gern zu dir zurückkehren. Aber das wäre nur im Frühling möglich, ehe ich mein Nest baue; und weil hier weit und breit kein Futter und kein Wasser zu finden sind, könnte ich nur ein paar Stunden bleiben.“ ,,Du bist anders als alles, was ich kenne,“ wiederholte der Berg. ,,Wenn es auch nur für ein paar Stunden ist, ich wäre so glücklich, dich wiederzusehen.“ „Da ist noch etwas, was du wissen solltest“, sagte Joy. ,,Berge dauern alle Zeit, Vögel aber nicht. Selbst wenn ich in jedem Frühjahr meines Lebens zu dir käme, hättest du nur ein paar Mal Besuch. Vögel leben nur wenige Jahre.“ ,,Ich werde traurig sein, wenn du einmal ganz ausbleibst“, sagte der Berg, ,,aber ich wäre noch trauriger, wenn du jetzt fortflögest und kehrtest nie zurück.“ Joy saß ganz still und schmiegte sich an die Seite des Berges. Dann begann sie ein Lied zu singen, zart und glockenklar. Für den Berg war es die erste Melodie, die er hörte. Nachdem Joy ihren Gesang beendet hatte, sagte sie: ,,Weil du der einzige Berg bist, der sich je darum gekümmert hat, ob ich komme oder gehe, will ich dir ein Versprechen geben. Jedes Frühjahr in meinem Leben komme ich zurück, um dich zu sehen und für dich zu singen. Und weil mein Leben nicht ewig dauert, gebe ich einer meiner Töchter meinen Namen, Joy, und sage ihr, wie sie dich findet. Und sie soll ebenso eine ihrer Töchter Joy nennen und ihr weitersagen, wie sie dich findet. Jede Joy wird eine Tochter Joy haben, so dass du, wie viele Jahre auch vergehen, immer eine Freundin hast, die kommt und für dich singt.“ Der Berg empfand Trauer und Glück zugleich. ,,Ich wünsche mir immer noch, du könntest bleiben“, sagte er, ,,aber ich bin froh, dass du wiederkommst.“ Jetzt muss ich fort“, sagte Joy‘ ,,denn die Reise in die Länder, wo es Nahrung und Wasser in Fülle gibt, ist weit. Lebe wohl bis zum nächsten Jahr.“ Sie erhob sich und breitete ihre Flügel wie einen gefiederten Fächer gegen die Sonne aus. Der Berg beobachtete sie, bis sie in der Ferne verschwand. Jahr für Jahr, wenn es Frühling wurde, flog ein Vögelchen zu dem Berg und sang: Ich bin Joy, und ich bin gekommen, dich zu grüßen.“ Und ein paar Stunden lang flog der Vogel umher oder schmiegte sich singend an den Berg. Am Ende des Besuches fragte der Berg jedes Mal: „Kannst du nicht doch bleiben?“ Und Joy antwortete immer: "Nein aber ich komme nächstes Jahr wieder.“ Von Jahr zu Jahr sehnte sich der Berg stärker nach Joys Besuch; schwerer und schwerer fiel es ihm, sie fortzulassen. Neunundneunzig Frühjahre kamen und gingen auf diese Weise. Im hundertsten Frühling, als Joy sich zur Abreise bereitmachte, fragte der Berg abermals: „Kannst du nicht doch bleiben?“ Joy antwortete wie immer: „Nein, aber ich komme nächstes Jahr wieder.“ Als sie verschwand, blickte der Berg zum Himmel hinauf, und plötzlich brach sein Herz. Der harte Stein krachte, und aus der tiefsten Tiefe des Berges ergossen sich Tränen und rollten in Bächen am Hang herunter. Im nächsten Frühjahr erschien wieder ein Vögelchen und sang: "Ich bin Joy, und ich bin gekommen, um dich zu sehen und für dich zu singen.“ Diesmal gab der Berg keine Antwort. Er weinte nur und dachte daran, wie bald sie ihn verlassen würde, und er stellte sich all die langen Monate vor, ehe sie wiederkam. Joy lehnte sich an ihren Felsvorsprung und schaute auf den Tränenstrom. Dann flog sie über den Berg und sang wie immer. Als es Zeit für sie war, Abschied zu nehmen, weinte der Berg immer noch. ,,Ich komme nächstes Jahr wieder“, sagte Joy zärtlich und flog davon. Als das nächste Frühjahr kam, kehrte Joy zurück; sie trug in ihrem Schnabel ein kleines Samenkorn. Der Berg weinte noch immer Tränenbäche. Joy steckte den Samen sorgfältig in einen Riss im harten Gestein, nahe bei dem Wasserstrom, so dass er feucht gehalten wurde. Dann flog sie um den Berg und sang für ihn. Sie sah, dass der Berg weiterhin unfähig war zu sprechen, und flog wieder fort. In den folgenden Wochen begann der Samen winzige Wurzeln in die Spalte des Berges zu senken. Die Wurzeln reichten bis ins harte Gestein; nach und nach streckten sie sich in immer engere Risse und brachen den Fels auf. Während die Wurzeln in den Spalten auf Wasser stießen und dem zerbröckelnden Stein Nahrung entzogen, brach ein Schössling aus dem Samen in das Sonnenlicht und entfaltete winzige grüne Blätter. Der Berg jedoch war noch immer tieftraurig, blind vor Tränen. So bemerkte er gar nicht die unscheinbare Pflanze. Im nächsten Frühjahr brachte Joy einen anderen Samen, im Frühjahr darauf wieder einen anderen. Sie legte jeden einzelnen an einen geschützten Ort nahe des Tränenstroms und sang für den Berg. Der aber weinte immer noch. So vergingen Jahre, die Wurzeln der neuen Pflanzen erreichten das Gestein am Wasser. Während der Stein sich in Erde verwandelte, begann in den geschützten Winkeln das Moos zu wachsen. Gräser und kleine Blumen sprossen in Höhlen neben dem Strom. Winzige Insekten, vom Wind herangetragen, surrten im Laub. Unterdessen drangen die Wurzeln des aller­ersten Samens tiefer und tiefer in das Herz des Berges. An der Oberfläche hatte sich das, was einst ein winziger Schössling war, zum Stamm eines jungen Baumes ausgewachsen, dessen Äste das grüne Laub in die Sonne streckten. Schließlich spürte der Berg in sich die Wurzeln wie sanfte Finger, die die Sprünge seines Herzens allmählich heilten. Die Trauer schwand dahin, und nahm die Verwandlungen wahr, die sich ergeben hatten. Angesichts der wunderbaren Neuigkeiten wurden seine Tränen zu Freudentränen. Jedes Jahr kehrte Joy zurück und brachte einen Samen. Jedes Jahr rannen mehr Bäche an den Berghängen zu Tal, und der gut bewässerte Boden ergrünte, weil Bäume und andere Pflanzen sich ausdehnten. Nun, da der Berg nicht länger trauerte, fragte er noch einmal: ,,Kannst du wirklich nicht bleiben?“ Doch Joy antwortete noch: "Nein aber ich komme nächstes Jahr wieder.“ Weitere Jahre vergingen, und die Wasserläufe trugen Leben weit hinaus in die Ebene rund um den Berg, bis endlich alles grün war, so weit der Berg sehen konnte. Aus Ländern jenseits des Horizonts kamen kleine Tiere. Als der Berg erkannte, dass alle Lebewesen an seinen Hängen Nahrung und Obdach fanden, erwachte plötzlich neue Hoffnung in ihm. Indem er den Baumwurzeln die Tiefe seines Herzens öffnete, gab er ihnen Kraft. Die Bäume streckten ihre Äste noch höher in den Himmel, und Hoffnung durchströmte sie — wie ein Lied aus dem Bergesinneren — bis ins letzte Blatt. Und wie selbstverständlich flog Joy, als das nächste Frühjahr kam, zu dem Berg und brachte nun kein Samenkorn mehr, sondern einen dünnen Zweig. Geradewegs zu dem größten Baum des Berges flog sie, zu jenem Baum, der aus dem allerersten Samenkorn erwachsen war. Sie setzte den Zweig in die Astgabel, in der sie ihr Nest bauen wollte. ,,Ich bin Joy“, sang sie, ,,und ich bin gekommen, um zu bleiben.“

 

Von dem mittlerweile grünen Berg wollen wir uns mit dem Predigttext in die Wüste zum Volk Israel begeben und hören auf 4. Mose (Numeri) 21, 4-9:

 

Da brach das Volk Israel auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt von dieser mageren Speise. Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

 

Nach diesem nicht grad leicht verdaulichen Text aus Numeri 21 drei provokative Fragen und Antworten des Theologen und Predigers Jens Kaldeway: Fügt Gott uns Schmerzen zu? Selbstverständlich. Enttäuscht er uns? Natürlich. Sagt er (manchmal) nein zu unseren Wünschen, Träumen und Sehnsüchten? Ja. Sicherlich ging es hier auch dem Volk Israel so: Nach vielen Jahren Wüstenwanderung mit vielen Entbehrungen standen sie dich an der Grenze zum gelobten Land. Nur noch ein Hindernis gab es zu überwinden. Sie mussten durch das Gebiet von Edom. Aber die Edomiter ließen sie nicht durch ihr Land. Und so musste Israel einen Umweg machen. Und das bedeutete: noch einmal zurück in die Wüste mit all ihren Entbehrungen. Und zu allen Enttäuschungen, die sie nun erfahren mussten, zu all den seelischen Schmerzen auch noch die körperlichen durch die tödlichen Schlangen, ja, viele traf es bis in den Tod. Schwer zu verstehen, zunächst – Gottes Handeln. Dennoch oder gerade deswegen wollen uns auf den Weg machen, es im Blick der gesamten Bibel zu betrachten. Wir gehen mit unseren Gedanken in unsere heutige Zeit: Sabine entwickelte mit ihrer Schülergruppe die Idee, ein „Homecamp“ zu veranstalten. Sieben Tage lang zusammen in einer Wohnung der Stadt zu übernachten, von dort aus gemeinsam zur Schule zu gehen, eigene und gemeinsame Aktivitäten wahrnehmen, Bibel lesen und beten und so eine tüchtige Portion gemeinsames Leben zu pflegen. Aber wer würde passende Räumlichkeiten zur Verfügung stellen? Schließlich kam sie strahlend nach Hause. Gott hätte mit ihr geredet! Sie wäre in den Nebenräumen von der Gemeinde gewesen und hätte deutlich in sich gehört: „Dies sind die Räume…“. Die Eltern freuten sich mit ihr. Sabine telefonierte mit dem zuständigen Mitarbeiter – und erhielt nicht nur ein Nein, sondern eine schroffe Abfuhr. „Ich verstehe Gott nicht mehr!“ Es war einfach bitter. „Das ist doch eine Kleinigkeit…“ – mag mancher einwerfen. Aber für ein junges Mädchen, das die ersten Glaubensschritte macht und von Gott etwas erwartet, ist das keine Kleinigkeit. Es ist wie das Ausrenken eines inneren Gelenkes. Es tut weh und es wirft Fragen auf. Und in diesen „Kleinigkeiten“ am Anfang unseres Glaubenslebens bzw. an unserem Umgang damit entscheidet sich oft der weitere Verlauf unseres Lebens mit Gott. Natürlich gibt es noch viel stärkere Ausschläge auf der Schmerzskala. C.S. Lewis, ein Junggeselle in den Fünfzigern, weithin bekannter christlicher Literaturprofessor, lernt die große Liebe seines Lebens kennen. Er öffnet sich völlig, er schmilzt, nie Dagewesenes wird wach, er erlebt einen regelrechten Frühling, empfindet die Beziehung als gewaltiges Geschenk seines Gottes. Dann aber meldet sich bei ihr ein lange im Verborgenen wuchernder Knochenkrebs. Sie heiraten im Krankenhaus, die Lebensgemeinschaft können sie nicht mehr aufnehmen, sie stirbt bald. Seine „geistliche Hüfte“ wird ausgerenkt, der Schmerz ist unerträglich. Wir alle haben unsere Enttäuschungsgeschichten mit Gott – einige taten sehr weh und einige tun immer noch weh und rumoren in uns. Wir haben immer noch keine Antwort und da ist immer noch dieser Schmerz. Mehr oder weniger verdrängt. Was machen wir mit unserem Schmerz? Was tun wir, wenn es uns fast unseren Glauben ausrenkt? Abschiednehmen von Gott – theoretisch und praktisch atheistisch leben, Gott keine Kompetenz und Wirkungskraft in unserem Leben einräumen? oder Gott anklagen – so wie es hier das Volk Israel tat? Gott zwar im Leben einen Platz einräumen, ihn aber anzuklagen, zu murren mit der Folge einer verbitterten, misstrauischen Beziehung? oder resignieren? Resignieren und unsere Ansprüche an Gott herunterschrauben. Den Glauben zum Kleinglauben machen und uns auf ein Christsein der Harmlosigkeit und Wirkungsarmut einstellen. Könnte das hierzulande die verbreitetste Reaktion sein? Ja nicht zu viel erwarten, ein vorsichtiger Umgang mit Gott, damit wir ja nicht wieder enttäuscht werden? Auch in unserer Geschichte hätte Israel nun mit ihrer Klage weiterleben können. Aber Gott handelt und lässt es durch die tödlichen Schlangen zunächst sehr schmerzlich fühlen.

 

Drei Punkte wollen wir näher bedenken:

1. Den Schmerz fühlen

2. Das Herz vor Gott ausschütten

3. Auf den Gekreuzigten schauen

 

Zunächst: Den Schmerz fühlen. Schmerz und Frust sind heute nicht mehr in. Wir haben gelernt, dem Schmerz auszuweichen, durch Verdrängung, Drogen, Ablenkung, Arbeit. Aber der Schmerz der Enttäuschung darf nicht verdrängt werden, weder durch Rückzug, noch durch fromme oder weltliche Aktivität, schon gar nicht durch übereiltes Danken, Anbeten und Vergeben. Lass den Schmerz zunächst zu! Sieh ihm ins Auge. Gestehe ein, dass es wirklich weh tut und dass es wirklich schlimm ist. Lass den Schmerz sich melden in Zeiten der Stille, lass ihn hochkommen. Erkenne ihn, benenne ihn, beschönige ihn nicht, vergrabe ihn nicht. Setz dich dem Schmerz wirklich aus und lass ihn an dich herankommen. Israel hatte hier kaum Verdrängungs- und Ausweichmöglichkeiten. Die tödlichen Schlangen waren bittere Realität. Es gab kein Entweichen. Auch in der Bibel hat die klare Wahrnehmung des eigenen Schmerzes ihren Platz gefunden: “Da wurde mein Schmerz erregt. Mein Herz wurde heiß in meinem Innern, bei meinem Stöhnen entbrannte ein Feuer…“ „Warum nimmt mein Leiden kein Ende? Warum will meine Wunde nicht heilen?“ „Mit meiner Kraft bin ich völlig am Ende, die Qual ist zu groß, ich kann nur noch schreien“. „Ich bin arm und hilflos und im Innersten verwundet.“ Noch deutlicher kann man es kaum in Worte fassen, wie es in den Psalmen, bei Jeremia oder Hiob heißt.

 

Ein weiterer Gedanke: Das Herz ausschütten vor Gott Was immer in deinem Herzen ist – schütte es in einem ehrlichen Gebet ohne Filter aus. Alles. Klagen, Vorwürfe, Bitterkeit, Wut, Ärger. Gott kann das verkraften. Er nimmt das gerne entgegen, ist aber umso trauriger, wenn wir diese Dinge woanders abladen, bei uns selbst in Selbstgesprächen oder indem wir uns bei anderen Menschen über Gott beklagen. Wähle den Direktkontakt, wie es im Gebetbuch der Psalmen zum Ausdruck kommt. „Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: „Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd einhergehen, bedrückt durch den Feind?“ (Psalm 42,10). Auch Israel wendet sich flehend an Mose und auch Gott. Vertraut auf ihn allezeit, ihr von Gottes Volk! Schüttet euer Herz vor ihm aus! Gott ist unsere Zuflucht (Psalm 62,9). Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese radikale Ehrlichkeit findet sich in Psalm 88. Hier finden wir praktisch nichts Positives. Hier ist nur Schmerz, Dunkelheit und Einsamkeit – aber alles wird Gott ausgeschüttet. Auch jetzt in der Passionszeit gehen wir wieder mit Christus diesen dunklen Weg des Leidens und machen uns bewusst, welch großes Opfer er für jeden von uns auf sich nahm. „Das Herz ausschütten“ kann den Charakter einer regelrechten Entsorgung hochgiftigen, seelischen Sondermülls entwickeln. Eine so gefährliche Entsorgung, dass man davor zurückschreckt! Aber wir können dieses Risiko eingehen. Es ist ermutigend, wie häufig in der Schrift im Zusammenhang mit Gebet Worte wie Schreien, Seufzen und Klagen auftauchen.

 

Aber dann: Auf den Gekreuzigten schauen Das Kreuz, für uns heute das Symbol für Sieg und Erlösung, war für Jesus, als er am Kreuz hing, die entsetzlichste Enttäuschung. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mit diesem Gottverlassensein hatte Jesus nicht gerechnet! Er hatte mit körperlichen Qualen, mit Hohn und Schmach der Menschen gerechnet, aber nicht damit, dass sein geliebter Vater sich vor ihm verbergen würde. Für seine Jünger war es die allerschlimmste Niederlage und Desillusionierung, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Sie hatten ihr ganzes Vertrauen auf Jesus gesetzt, hatten alles verlassen – und nun hing er da am Kreuz, schwach, hilflos und sterbend. Es kann hilfreich sein und das Festhalten an Gott erleichtern, wenn wir uns in Zeiten scheinbaren Verlassenseins und unbegreiflicher Schicksalsschläge an Jesus am Kreuz erinnern und uns klarmachen: Auch wenn ich es nicht erkennen kann, Gott weiß, was er tut, irgendwo in diesem Schmerz liegt sein Heil verborgen und wird sich später entfalten. Israel bekommt hier auch den Auftrag, auf die eherne Schlange zu schauen, dann werden die Schlangen keine tödliche Bedrohung mehr darstellen. Wir erkennen den Zusammenhang zum gekreuzigten Christus. Auf ihn schauen und befreit werden von Sünde und Schuld – nur in IHM liegt das Heil, nur durch ihn können wir Befreiung für unser Leben erfahren. Er ruft weiter zur Umkehr – noch ist es nicht zu spät. Im Unterschied zur Schlange ist Jesus jedoch kein Zeichen. Er ist die Vergebung in Person! Zum Glauben an ihn sind wir eingeladen. Bei ihm finden wir Vergebung und wahres Leben. Die Frage nach dem „Warum?“ ist legitim. Wir finden sie oft in der Bibel. Es ist nur zu menschlich. Manchmal erhalten wir Antwort, aber manchmal bleibt sie auch aus – es ist gut, sich auf beide Möglichkeiten einzustellen. Es kann sein, dass tatsächlich wir falsch liegen, dass wir uns verrannt haben, in falsche Vorstellungen, falsche Hoffnungen, falsche Verhaltensweisen, falsche Motive. Wir befinden uns auf einem Weg, der immer steiniger wird, der gefährlich ist, der uns nicht gut tut und auf dem wir schrecklich enttäuscht werden. Weil es nicht Gottes Weg ist. Manchmal gehen wir trotzig und hartnäckig weiter, weil wir unsere Vorstellungen und unseren Eigenwillen nicht aufgeben wollen. Gott lässt uns weitergehen und gibt uns dadurch die Chance, an einen Punkt zu gelangen, wo wir stehen bleiben und anfangen zu fragen, was eigentlich los ist. Frage ehrlich uns sei bereit für eine ehrliche Antwort Gottes. Sei bereit für eine göttliche Korrektur mit Gottes Hilfe.

 

Den Schmerz fühlen, das Herz ausschütten, auf den Gekreuzigten schauen, sich vom Geist korrigieren lassen – das alles kann Zeit in Anspruch nehmen. Wir sollten uns die Zeit nehmen – Gott die Zeit mit uns lassen. Er will das Beste und Höchste für uns! Und so kommt es, dass es manchmal unerträglich scheint, was er uns zumutet, und wir schreien ihn an… Dann aber gilt. Stehenbleiben, an der Beziehung zu ihm festhalten, ganz nah bei ihm bleiben. Denn am Ende steht das Gute, der Sieg. Dann können wir wie in Psalm 40 mit David einstimmen und sagen: Ich harrte des Herrn, und er neigte sich zu mir und hörte mein Schreien. Er zog mich aus der grausigen Grube, aus lauter Schmutz und Schlamm, und stellte meine Füße auf einen Fels, dass ich sicher treten kann; er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und sich fürchten und auf den Herrn hoffen. Wohl dem, der seine Hoffnung setzt auf den Herrn! Dann darf es uns auch so wie eingangs dem Berg mit dem Vögelchen ergehen. Er war zunächst sehr traurig in seinem Leid und zerbrach fast daran, dass es um ihn so trostlos war, er einsam war und immer wieder Jahr um Jahr auf die Rückkehr des Vögelchens warten musste. Er machte seiner Traurigkeit Platz und weinte los, so dass Bäche von Tränen an ihm herunterliefen. Er hatte Geduld und schüttete sein Herz aus. Daraus konnte Neues entstehen. Im Schmerz und im Ausdruckbringen lag schon der Neuanfang für etwas Großartiges und Schönes. Nach und nach heilten die Wunden und sie wurden überwuchert von wunderschönem Grün, herrlichen Pflanzen und einer großartigen Tierwelt. Leben war da und alle Traurigkeit verflog. Öffnen wir Gott unser Herz mit all unserem Schmerz und unseren Sehnsüchten und Wünschen. Er möchte es heilen, es ausfüllen mit einem Garten der Vielfalt, der Erfüllung. AMEN.